Heft 13

Oral History

Heftverantwortung:  Clemens Schwender



Abstract


Bei der Berichterstattung über vergangene Ereignisse ist nicht nur dem Gedächtnis, sondern auch der subjektiven Sicht- und Darstellungsweise zu misstrauen. Das wusste schon der griechische Geschichtsphilosoph Thukydides. „Mühsam war die Forschung, weil die Zeugen der einzelnen Ereignisse nicht dasselbe über dasselbe aussagten, sondern je nach Gunst und Gedächtnis.“

 

Die Methode hat ihre Stärken im Ermitteln und Festhalten der subjektiven Sichtweise der Betroffenen. Über den Zweiten Weltkrieg und die Geschichte des Holocaust zum Beispiel wird man inhaltlich nicht viel Neues erfahren. Die Fakten sind hinlänglich bekannt. Der Blick wird aber frei für die Dimension des Erlebens. Diese ist immer radikal subjektiv. Die Perspektive ist einzigartig wertvoll und die Erforschung wichtig.

 

Über das geschichtliche Interesse hinaus lassen sich auch medienwissenschaftliche und medienpädagogische Fragen stellen. Medien werden individuell angeeignet und erlebt. Der Umgang mit der Technik bestimmt die Haltung zu den Inhalten. Inhalte erschließen sich durch persönliche Sichtweisen. Die Forschung muss hier Methoden anwenden, die über die Zufälle hinausweisen, um daraus verallgemeinerbares Wissen zu generieren. Aus den Geschichten kann die Geschichte erkundet werden.

 

Oral History als bedeutendes Instrument der Altersforschung

 

Ältere Menschen sprechen anders. In Vergleichsstudien nutzen sie eine weniger komplexe Syntax, verwenden veraltete und altmodische Wörter. Sie haben eine geringere Sprechrate und weisen mehr Themensprünge auf. Darüber hinaus findet eine erkennbare Vergangenheitsperspektive statt. Diese stellt sich etwa in der Tendenz zu monologisieren dar und in der verminderten Bereitschaft, andere zu Wort kommen zu lassen. Verallgemeinern sollte man diese Befunde jedoch nicht, da im Alter eine große Varianz festzustellen ist. Die Orientierung auf Vergangenes zeigt sich sowohl in Gesprächen unter Gleichaltrigen als auch mit jungen Menschen. Dies kann daher rühren, dass ältere über eine Ressource verfügen, die man nur über viele Jahre ansammeln kann, nämlich Vergangenheit. Davon haben älter Menschen mehr als junge.

 

Coupland, Coupland und Giles konnten feststellen, dass Älteren ein besonderes Framing gelingt. Sie perspektivieren Themen auf die Vergangenheit, sprechenden generellen Wandel in Kultur und Gesellschaft an und identifizieren sich erkennbar mit der Vergangenheit. Ihnen gelingt es bisweilen, den Fokus eines Themas aus der Gegenwart herauszunehmen und ihn auf die Vergangenheit zu richten. Sie meinen oft: „Früher war alles anders.“ Dies lässt sich in der Forschung als Chance begreifen. Bei Vergleichen zwischen Jung und Alt treten Unterschiede deutlich und zugespitzt zutage.

 

Die Ressourcen Wissen und Erinnerung gehen über die Generationen hinweg verloren. Es sei denn, sie gehen ins kulturelle Hintergrundwissen ein oder sie werden – etwa in Oral History-Interviews – festgehalten. Das Resultat wäre der Verlust eines Depots von Erfahrung, das für gegenwärtige und zukünftige Wissensaneignungen wichtig ist.

 

Über die Verfahren, wie man Oral History-Gespräche vorbereitet, durchführt und auswertet finden sich zahlreiche Hinweise im Internet. Auf eine Gebrauchsanleitung kann darum verzichtet werden. In den hier versammelten Beiträgen sind wertvolle Hinweise über die praktische Anwendung der Methode zu finden. Die Beiträge sind alle aktuell, auch wenn sie zum Teil auf ältere Erfahrungen zurückgreifen. Oral History ist kein Tagesgeschäft. Einige Autorinnen und Autoren reflektieren zurückliegende eigene Projekte, um Schlussfolgerungen auf den Stellenwert der Methode ziehen zu können. Sie denken kritisch darüber nach, was sie kann und zeigen die Grenzen auf. Es geht um historische Befunde und um aktuelle Erkenntnisse. Oral History wird genutzt als Heuristik, die Strukturen in Gesellschaft und Individuum freilegen kann. Nachgedacht wird über alle Rollen, die im Prozess beteiligt sind.

 

Jens Murken – Historiker im Landeskirchlichen Archiv der evangelischen Kirche von Westfalen – nimmt sich der Rolle des Oral Historians an. Anders als bei anderen Methoden spielt dessen Persönlichkeit und dessen Geschick eine erhebliche Rolle bei der Erhebung der Daten.

 

Von dem Ehepaar Ernst und Irene Guicking liegen über 1.600 Feldpostbriefe vor, die sich die beiden während des Zweiten Weltkrieges schrieben und schickten. Irene hat diese sorgsam verwahrt und transkribieren lassen. Sie wurden 2001 publiziert. Dies eröffnet die außergewöhnliche Gelegenheit, persönliche schriftliche Ego-Dokumente mit Erinnerungen zu vergleichen. Janet Heidschmidt konnte 2003 noch mehrstündige Interviews mit Irene Guicking führen. Die Briefe sind meist noch unter dem Eindruck der Ereignisse entstanden und führen zu unmittelbaren Verarbeitungen. Die Zeitzeugengespräche mit der Verfasserin fanden gut 60 Jahre nach den Ereignissen statt. So lassen sich die Vor- und Nachteile der beiden Gattungen gut vergleichen. Beide haben ihre Schwächen, beide haben ihre einzigartigen Chancen.

 

Die Sozialarbeiterin Rita Klages nutzt Oral History seit Jahrzehnten in ihrer Arbeit. Ihre Arbeit steht am Schnittpunkt von Theorie und Praxis. Sie bezieht ältere Menschen mit ihren Erfahrungen und Erinnerungen in die kommunale Museumsarbeit ein. Ältere Menschen werden Expertinnen und Experten für erlebte Geschichte im lokalen Umfeld. Sie machen Geschichte lebendig. Es kommt immer wieder zu Kooperationen zwischen dem Museum und den Schulen in der Nachbarschaft. Das Schulfach Geschichte lenkt mit ihrer Unterstützung die traditionelle Betonung von Daten, Orten und Entscheidungen der Führungspersönlichkeiten hin zu den Betroffenen der Geschichte. Dies macht aus den Senioren Vermittler von Kultur und es gibt den jungen Menschen Gelegenheit, ihre Nachbarschaft authentisch zu erfahren. Die Bemühungen von Rita Klages sind verstetigt. Sie hat mit Gleichgesinnten einen Verein gegründet, der ein Nachbarschaftsmuseum organisiert.

 

Eine Studierendengruppe an der SRH Hochschule der populären Künste führte Interviews mit älteren und jüngeren Smartphone-Nutzern durch. Sie wollten wissen, wie sich ähnliche Erfahrungen – nämlich die Anschaffung eines internetfähigen Telefons – auf die Verwendungsintentionen auswirkt. Johannes Klappich, Michele Marcinek und Sophia Vecchini sollten bei den Interviews auch ihre eigene Rolle reflektieren und die Aufmerksamkeit darauf lenken, wie sich ihre eigene Haltung dem Gerät gegenüber durch die Gespräche verändert hat.

 

Interviews zur Entwicklung der Arbeit in Technischen Reaktionen, die in den 1990er Jahren geführt wurden, konnten unter einer veränderten Fragestellung erneut interpretiert werden.  Die meisten der Befragten standen vor einer doppelten Veränderung in ihrem Leben. Sie standen vor dem Ausscheiden aus dem Beruf und vor der Digitalisierung der Arbeitswelt, die auch sie betraf. Die Schablone, durch die der Wandel betrachtet wird, ist das Alternsmodell von Baltes und Baltes, das sich durch Selektion in jungen Jahren, durch Optimierung in der Folge und durch Kompensation im Alter beschreiben lässt. Zu erkennen ist, dass das Modell eher einem Ideal entspricht, das in vielen Fällen nur eingeschränkt anwendbar ist.

 

So werden in geraffter Form Perspektiven auf die Methoden der Oral History eröffnet, die vor allem in der Altersforschung eine große Relevanz aufweisen.


Inhaltsverzeichnis

 

Clemens Schwender
Editorial: Oral History – Geschichte erzählen

Jens Murken
Ego-Oral History. Zur Rolle der Oral Historians in zeitgeschichtlichen Erinnerungsprojekten

Zusammenfassung | Vor dem Hintergrund der geschichtswissenschaftlichen Debatten um den „Tod des Zeitzeugen“, um die medialen Deutungskonkurrenzen in der Zeitgeschichte und um das aufkommende Interesse an der Zweitverwertung von Oral History-Quellen unternimmt es der Beitrag, die Aufgabe der Historiker/innen in Oral History-Projekten neu zu gewichten. Durch das „gemeinsame Verfertigen von Vergangenheit im Gespräch“ (Harald Welzer) sind Zeitzeuge und Interviewer als Produzenten der Erinnerungsquellen zu verstehen. Zur Kontextualisierung und intersubjektiven Überprüfbarkeit dieser Quellen bedarf es nicht nur einer genauen Beschreibung der Zeitzeugenbiografie und der Interviewumstände, sondern auch einer projektbezogenen autobiografischen Selbstauskunft des Interviewers in der Ego-Oral History.

Ego-oral history. The role of Oral Historians in contemporary memorial projects
Summary | Against the background of the historico-scientific debates on the "death of contemporary witnesses", the medial interpretive competitions in contemporary history and the emerging interest in the secondary exploitation of oral history sources, the article undertakes the task of historians in oral history projects to rebalance. By "sharing the past in conversation" (Welzer), contemporary witnesses and interviewers are to be understood as producers of sources of memories. For the contextualization and intersubjective verifiability of these sources, not only a precise description of the contemporary witness biography and the interview circumstances, but also a project-related autobiographical self-information of the interviewer in the Ego-Oral History

 


Janet Heidschmidt
Das Zeitzeugeninterview als Erweiterung der Quelle Feldpostbrief
Zusammenfassung | Der Beitrag vergleicht zwei historische Quellen. Feldpostbriefe, wie sie etwa während der Zeit des Zweiten Weltkrieges zwischen Heimat und Front verschickt wurden, entstanden oft unter dem Eindruck des Geschehens, denn sie wurden meist kurz nach den Ereignissen verfasst. Die Zeitzeugen berichten über ihr Erleben und ihre Empfindungen. Dabei ist ihr Blick aber oft ideologisch eingeschränkt. Zeitzeugeninterviews hingegen, die zum Teil Jahrzehnte nach den Erlebnissen in Oral History Projekten entstehen, sind nicht nur von schwächer werdenden Erinnerungen geprägt, sondern sie beziehen auch das Wissen um den weiteren Verlauf der Geschichte ein. Das Erzählte erhält eine neue Rahmung. Beide Quellen können sich aber in besonderer Weise ergänzen.

The eyewitness interview as an extension of war letters
Summary | The article compares two historical sources. War letters, such as those sent during the Second World War between home and front, were often written under the impact of the situation, because they were usually written shortly after the events. The witnesses tell about their experiences and their feelings. But their view on the events is often ideologically limited. By contrast, eyewitness interviews, some of which are recorded decades after the experiences in oral history projects, are not only characterized by weaker memories, but also involve the knowledge of the further course of the history. The narrative receives a new framing. Both sources can complement each other in a special way.

 


Rita Klages
Oral History in der Praxis von Geschichtswerkstatt, Museum und Community
Zusammenfassung | Seit vielen Jahren setzten Geschichtswerkstätten, (Regional-) Museen und Nachbarschaftszentren die Methoden der Oral History ein, um Erinnerungen und Erfahrungen von älteren Menschen zu sammeln und zu bewahren. Gleichzeitig hilft es vielen Hochbetagten am sozialen Leben teilzunehmen und sich aktiv einzubringen. Einige Projekte und die daraus gewonnenen Erfahrungen sollen hier an Beispielen dargestellt und einer kritischen Betrachtung unterzogen werden.

Oral History in Practice between History Workshop, Museum and Community
Summary | For many years, social workers in the Berlin have used oral history methods to collect and preserve the memories and experiences of older people. At the same time, elderly people participate actively in the social life and contribute their memory. Some projects and their experiences will be presented and examined.

 


Johannes Klappich, Michele Marcinek, Sophia Vecchini und Clemens Schwender
Smartphones bei Jung, Alt und dazwischen
Zusammenfassung | Am Beispiel der Anschaffung und Verwendung des Smartphones soll Oral History kritisch erprobt werden, um Chancen und Grenzen der Methode zu ermitteln. Biografische Interviews können Motive der Auswahl des weit verbreiteten technischen Gerätes ermitteln, um dessen Funktion im Alltag erkennen zu können. In der Geschichte der Telefonie finden sich immer wieder Hinweise, dass das Gerät auch im Kontext des Impression Management verwendet werden kann. Dies kann nicht direkt erfragt werden. Deshalb geht es vordergründig um den funktionalen Gebrauch, auf einer tieferen Ebene jedoch darum, auch die emotionalen Aspekte der Geräte aus den Antworten zu erschließen.  Über die Aneignung der Technik hinaus geht es auch um die Rolle der Interviewer selbst. Es wird ermittelt, welchen Einfluss die Interviews auf die Fragesteller selbst hat. Bei der Anwendung der Oral History-Methode ist dieser Aspekt zu reflektieren.

Smartphones for young, old and in between
Summary | Using the example of purchase and use of the smartphone, oral history will be tested to identify opportunities and limitations of the method. Biographical interviews can identify motives for the selection of the widespread technical device to recognize its function in everyday life. In the history of telephony, there are indications that the device can also be used in the context of impression management. This cannot be requested directly. Therefore, it is superficially about the functional use, but on a deeper level it is also about opening up the emotional aspects of the devices.
Beyond the appropriation of technology, the article is also about the role of the interviewers themselves. It is determined what influence the interviews have on the questioners themselves. When applying the oral history method, this aspect should be reflected.

 


Clemens Schwender
„Nur wenige haben diese Laufbahn freiwillig eingeschlagen.“
Arbeitsbiografien in der Technischen Dokumentation nach dem SOK -Modell
Zusammenfassung | Die Altersforscher Paul und Margret Baltes haben ein Entwicklungsmodell des Alterns entworfen, das auf drei Stufen beruht. In der Frühphase wird ein Lebensziel ausgewählt (Selektion). Dieses wird durch Investment und Übung weiter verbessert (Optimierung) und – wenn die Kräfte im Alter nachlassen – an die neuen Bedingungen angepasst (Kompensation). Dieses Modell wurde bei einer Berufsgruppe untersucht. Technische Redakteure haben sich bis in die 1980er Jahre hinein ihren Beruf selten selbst gewählt, denn es gab keine Ausbildung, auf die man aufbauen konnte. Hinzu kam, dass die älteren Mitarbeiter vor entscheidenden Veränderungen standen. Sie erwarteten ihre Verrentung und der digitale Wandel des Berufsbildes stand bevor, was neue Herausforderungen an sie stellte. Statt die Möglichkeit der Kompensation wurden eher neue Anforderungen an sie herangetragen. Das SOK-Modell konnte bei den betrachteten Fällen, die mit der Methode der Oral History befragt wurden, kaum angewendet werden. Das Modell beschreibt Idealfälle, die nur eingeschränkt zu verallgemeinern sind.

 


"Only a few have chosen this career voluntarily." - Working biographies in technical documentation according to the SOC model
Summary | Aging researchers Paul and Margret Baltes have proposed a developmental model of aging based on three stages. In the early phase, a life goal is chosen (selection). This is further improved by investment and exercise (optimization) and – when the forces decline in old age – adapted to the new conditions (compensation). This model was studied by the case of a professional group. Technical writers seldom chose their profession until the 1980s because there was no education to build on. In addition, the older employees were facing decisive changes. They expected their retirement and the digital transformation of the profession was imminent. That presented new challenges to them. Instead of the possibility of compensation new demands were made. The SOK model could hardly be applied to this group of people. For the investigation the Oral History method was applied. The SOC-model describes ideal cases that can only be generalized to a limited extent.


Rezensionen

Dagmar Hoffmann
Martina Brandt / Jennifer Fietz / Sarah Hampel / Judith Kaschowitz / Patrick Lazarevic / Monika Reichert / Veronique Wolter (Hrsg.) (2018). Methoden der empirischen Alter(n)sforschung. Weinheim: Beltz Juventa

Hans-Dieter Kübler
Kubicek, Herbert & Lippa, Barbara (2017). Nutzung und Nutzen des Internets im Alter. Empirische Befunde zur Alterslücke und Empfehlungen für eine responsive Digitalisierungspolitik. Leipzig: VISTAS Verlag. 236 Seiten

Martin Roth
Prieler, Michael & Kohlbacher, Florian (2016). Advertising in the Aging Society. Understanding Representations, Practitioners, and Consumers in Japan. London: Palgrave Macmillan UK. 155 Seiten.